Woran ich mich zehn Jahre später erinnern kann

Am 22. Jänner sitze ich in einem Seminar und lese auf Twitter, dass der öffentliche Verkehr in Wuhan eingestellt wird. Ich erschrecke. In der Rauchpause draußen höre ich die Straßenbahn, stelle mir vor, dass Wien abgeriegelt wird, dass nichts mehr fährt, dass Stille einkehrt. Ich kann es mir vorstellen, weil ich mir Wuhan vorstellen kann. 2009-2010 durfte ich in Wuhan ein Jahr studieren. (Die Fotos sind aus dieser Zeit.)

Die Uni liegt in Wuchang, einer von drei Stadtteilen Wuhans (die anderen zwei sind Hanyang und Hankou). Getrennt ist Wuchang von den zwei anderen Teilen durch den Yangtze (Changjiang).

In meinen Notizdokumenten, die ich nachlässig führe, sammeln sich kleine Einträge zur Stadt und zur Erinnerung. 

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Wuhan (Jänner 2020, Wien)

Warum schmerzt eine Stadt so? Warum fallen die leeren Straßen der Stadt im Jänner 2020 so in meinen Kopf hinein, füllen ihn mit Echos der Vergangenheit: wie sich die Zimmertür öffnet, was an den Straßenrändern zu sehen ist, wie sich die Westen der älteren Passanten zusammenfügen, die Gerüche, die Busmelodien, die Wolken, nur manchmal zu sehen. Die Türme, die eine verstreute Skyline bilden, die ein Herz bildet, einen Kaffeerand einer Erinnerung, die leuchtet und schmerzt, wenn das Wort Wuhan fällt. Wieviele Menschen kurz an mir angekommen sind, mir Essen bereitet haben, mit mir kurze Sätze ausgetauscht haben und älter geworden sind, wie ich auch.

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Wuhan II (Februar 2020, Wien)

In meiner Erinnerung habe ich meine Ankunft in Wuhan im August 2009 im Tagebuch beschrieben, ich habe es aber nicht getan. In meiner Erinnerung bin ich 32 Stunden mit dem Zug aus Kunming unterwegs, in dem ich mich nur von Keksen und Bier ernährt habe und Namen bekommen habe, die ich sofort wieder vergessen habe. Ich komme an und in meiner Erinnerung sehe ich mich meinen Koffer durch die Bahnhofshalle (die Ankunftshalle unten) von Wuchang ziehen und mir war schon seit Hunan so heiß, die Temperatur im Zug stieg und stieg und ich fühlte mich elend und dreckig und verschwitzt und wollte nur schnell ins Hotel, von dem ich mir die Adresse aufgeschrieben hatte. Aber ich fand kein Taxi oder wurde nicht mitgenommen und wusste nicht, in welche Richtung irgendetwas lag und ich war fertig, mir war heiß, ich war erschöpft und allein. Und dann hat mir jemand geholfen. Hat mir ein Taxi gerufen, hat mich ins Taxi gesetzt, hat dem Taxifahrer erklärt, wo ich hinwill, ist mitgefahren und stand dann noch lang in der Hotellobby rum, weil ich vielleicht noch immer etwas brauchen hätte können. Im Hotel habe ich geduscht und dann ging es wieder, dann war ich in Wuhan. Ich habe vermutlich nicht einmal auf die Karte geschaut, wusste nur, das Hotel lag in einer Straße, die quer den Bahnhof und den Fluss verband und ich wollte unbedingt zum Fluss. Draußen war es heiß, dunstig, die Männer hatten alle ihre T-Shirts über den Bauch hochgeschoben, ein paar gingen überhaupt mit freiem Oberkörper. (Man hatte mich gewarnt, wie warm es in Wuhan sein würde.) Und in der Straße, die ich entlang laufen musste, gab es einen KFC, im KFC gab es einen Eiskaffee, ich hatte einen Eiskaffee und ich lief damit zum Fluss. Die Sonne war schon untergegangen, es war noch immer heiß und ich ging, bis ich an der Uferpromenade vom Yangtze war. Und dann staunte ich die Lichter an, die neuen Hochhäuser von Hanyang, den Fernsehturm, der eins der ersten Dinge war, die ich noch in Wien über Bilder von Wuhan lernte.

***

Der Park, in den ich einige Tage vor Weihnachten 2009 gehe und niemand ist da und alles sieht noch aus wie Herbst. Ein kleiner Pavillon steht in dem Wäldchen, auf dessen Säulen stehen Namen, Telefonnummern, Beleidigungen, Wünsche, das übliche – mit einem Kuli schreibe ich ein Wort dazu, es soll mir zehn Jahre später als kleiner Schock wieder einfallen: auf einer Säule eines Pavillons in einem kleinen, menschenverlassenen Park in Wuhan steht das deutsche Wort „Hoffnung“.

Erst Ende Jänner 2020 als ich auf Twitter die Nachricht sehe, dass jeder öffentliche Verkehr in Wuhan eingestellt wird, wird mir bewusst, wie ernst die Lage ist. Ich bin erschrocken, das Gefühl lässt nicht nach. Manchmal vergesse ich es kurz, dann fällt es mir wieder ein und ich erschrecke neu. In den vielen Nachrichten im Internet schreiben Menschen aus Wuhan, sie fühlen sich wie in einem Alptraum und das ist auch das Wort, das ich verwenden würde, wenn ich aus dem kurzen Vergessen aufwache und feststelle: es ist die Wirklichkeit, es ist der Alptraum.

Mein Jahr in Wuhan war eines der glücklichsten in meinem Leben, vielleicht weil davor so viele schlimme Dinge passiert sind und danach noch viele mehr. In Wuhan selbst habe ich nur geweint, weil ich offen war, für alles, das mir passiert und weil ich offen war, alles zu fühlen und mit allem umzugehen. Ich habe nicht geweint, weil ich unglücklich war.

Viele Sachen, die ich vom Wuhan in Quarantäne jetzt sehe, bringen konkrete Erinnerungen zurück, die ich sonst nicht aufgerufen hätte: die vielen Menschen, die sich aus den Fenstern ihrer Hochhäuser „Wuhan, Jiayou!“ zurufen erinnern mich an die Stromausfälle abends am Campus, als nicht nur unser Dorm, sondern auch der gegenüber betroffen war und alle aufschrien – noch mehr, die Fenster öffneten und brüllten, weil man sich im Dunkeln so zumindest weniger allein fühlt.

Ich habe Wuhan fast menschenleer gesehen. Abends um 12 waren manche Straßen schon leer, die Neonlichter an den Gebäuden wurden Punkt Mitternacht abgedreht. Wenn ich früh zum Bahnhof ging, vor halb 6 am Morgen, waren kaum Menschen auf der Straße. Die KöchInnen, die von früh bis spät am Eingang zum Campus frisches Essen zubereiteten, zogen ihre Utensilien Richtung Campus. Auf den Straßen wurde gekehrt, vereinzelte Taxis fuhren, die Busse waren recht leer.

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Wuhan III (Februar 2020, Graz)

An die meisten Dinge in Wuhan kann ich mich erinnern, weil ich sie mir aufgeschrieben habe – zumindest kurz – oder weil es Fotos davon gab. Die meisten Fotos von Wuhan habe ich verloren, weil mein Laptop kurz nach der Rückkehr kaputt wurde und dann bei einem Wohnungseinbruch gestohlen wurde – die meisten Fotos sind weg, für immer.

Ich kann mich an Geräusche erinnern: die Alarmanlagen der Roller vor dem Studentenwohnheim, die immer bei Sturm und Unwetter losgingen. Das Geräusch meiner Zimmertür, das Piepsen der Karte, das Schleifen des angeklebten Kartons unten an der Tür, weil die Ritze zu breit war. Das Scharren in den Woks an den Essensständen beim Universitätseingang. Die Geräusche der Busse, aber vielleicht erinnere ich mich nur, weil ein japanischer Tourist ein Video davon auf Youtube hochgeladen hat, das ich mir als mp3 runtergeladen habe, um es wie einen Schatz aufzubewahren.

Woran ich mich erinnere, ohne es notiert zu haben: die Scheinwerfer von den seltenen Autos am Hügel in der Universität, die sich im Nebel abends brechen, wie strahlende Geister erscheinen. Die Plastikstreifen an den Eingängen der kleinen Supermärkte im Campus. Der Geruch vom Kuchen des Bananenkuchengeschäfts, das im zweiten Halbjahr vor der Universität aufsperrte. Die Dinge, die ich aus dem Bus sah oder in Bussen sah: einmal in einem Bus, der am Ufer des Donghus vorbeifuhr, da stand am Ufer ein Mann, zur Fahrbahn gerichtet, die Hose herunten (beide), grinsend. Oder der Clown, der mitten in einem vollgestopften Bus stand, der an mir am Gehsteig vorbeifuhr. Die vielen Roller am Gehweg, man musste rechtzeitig ausweichen. Am Qunguangguangchang die kleinen bunten Käfige mit Hundewelpen und Kaninchen. Der Fußgängerübergang weiter vorn, wo abends immer jemand Musik spielte. Die kleinen Gassen, autofrei, in die man gelangte, wenn man einmal von den Hauptstraßen abbog, die vielen Kabel, über dem Kopf gespannt, die vielen Läden und Märkte. Der Kleidermarkt in Hankou, den ich einmal unabsichtlich fand und dann suchen musste, jedes Mal vergaß ich, wie man hinkam, wie ein mystischer Ort: ich fand ihn immer nur, wenn ich recht bald, nachdem ich über Hanyang von Wuchang mit dem Bus gekommen war, ausstieg und mich dann vorsätzlich verlaufen wollte. Man hat mir dort Unterhosen verkauft, die viel zu klein für mich waren. In Hankou an der Uferpromenade kaufte ich meine ersten Lotuskerne und aß sie roh.

In Wuhan leben hieß vor allem über den Fluss fahren, mal wegen der Aufenthaltsgenehmigung, mal um Hankou zu sehen, dann, weil der Zug vom Bahnhof in Hankou fuhr statt von Wuchang (oder dort ankam), dann ins Kunstmuseum oder weil ich herausfinden wollte, auf wieviel verschiedene Arten man den Fluss überqueren konnte:

Es gab mehrere Busse, die von Wuchang aus über den Fluss fuhren, bis nach Hankou dauerte das mitunter zwei Stunden in vollen Bussen, stehend, zwischen vielen anderen Menschen. Es gab Busse, die fuhren über die Große (Alte) Brücke, über Hanyang und den Schildkrötenhügel, am Guqintai vorbei, es gab welche, die Bogen vorher ab und fuhren nach „unten“ über die Spannseilbrücke. Es gab O-Busse und normale Busse, über die Spannseilbrücke fuhren auch zweistöckige. Dann konnte man auch mit der Fähre über den Fluss fahren – es dauerte auch recht lange, aber der Wind verwehte einem die Haare und eigentlich ging es schneller vorbei als eine Busfahrt. Roller und Radfahrer fuhren auf die Fähre, man konnte drinnen sitzen oder am Reling stehen. Die Überfahrt kostete genausowenig wie eine Busfahrt.

Nicht alle Taxis fuhren über die Brücke, 2009 prägte ich mir ein, dass es von den Autokennzeichen abhing: gewisse Nummern (gerade/ungerade) durften an gewissen Tagen über die Brücke – auf der Brücke war immer Stau. Man konnte auch zu Fuß über die Brücke gehen, was aber ein wenig unheimlich war, da die Brücke so lang und groß war: unten fuhren die Züge, oben waren die tausend Autos, in den Wachtürmen standen Polizisten und unter einem fuhren die Schiffe durch. Mit dem Zug überquerte man die Brücke, wenn man von Wuchang losfuhr in den Norden: wenn man aus dem Zugfenster sah, konnte man noch die Schwellen sehen und darunter: den Fluss, ein bisschen wie fliegen.

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Es gab auch einen Tunnel unter dem Fluß, aber da fuhren die Taxifahrer nur ausnahmsweise: die Einfahrt war beschränkt, es staute sich bei meinen Fahrten gottseidank nicht, aber lieber fuhren alle oben rum. Unten fuhr man einen ganzen Kilometer unter dem Fluss durch.

Kam man in Hankou am Bahnhof an und musste nach Wuchang und wollte sich die Mühe mit den zweistündigen Bussen ersparen, so nahm man ein Taxi und wusste doch nicht, was einen erwartete: wurde es die erste, die zweite Brücke oder gar der Tunnel?

Ich erschrecke mich über den Tagebucheintrag von 2010, Juli, dass ich diese Stadt nicht vermissen werde. Vielleicht war ich müde von den Menschen, die mich angeschaut und angesprochen haben – nein, angesprochen weniger, sondern hinter meinem Rücken über mich gesprochen, immer drehte ich mich um, konnte es nicht ignorieren, weil es so neu für mich war. Ich fühlte mich ohnehin unwohl in meiner Haut, hatte oft Kopfschmerzen, nahm zu, fühlte mich so fehl am Platz und unnütz, eine Situation, in der ich nicht gerne angesehen werde und dann war ich so sichtbar. Vielleicht war ich auch müde von all den Staus, den dichten Bussen, den kaputten Waschmaschinen im Studentenwohnheim, dem ständigen Umhergehen, der auslaufenden Zeit. Vielleicht von den paar Männern, die mir nachgestellt haben, ein Studienkollege meiner Uni, eine Zufallsbekanntschaft vom Bus: beide waren anfangs nett, bis sie offen mit mir geredet haben und dann ist es schief gegangen. Dann hatte ich Angst vor meiner Tür.

Angenehmer war da der mexikanische Studienkollege, mit dem ich einmal nach Hankou im Bus fuhr, während er die gesamte Strecke über den Fluss über das Leben philosophierte, dann spazierten wir durch die kleinen autofreien Gassen und aßen in einem Restaurant Wuchang-Fisch. Am nächsten Tag kannte er mich schon nicht mehr, grüßte nicht mehr, nur manchmal, wenn ich ihn ausdrücklich grüßte, schien er mich überhaupt zu sehen. Ich habe die anderen Studierenden gefragt, die mich beruhigten, es wäre ihnen auch so gegangen, er erkannte Leute einfach nicht wieder.

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Wuhan IV (April 2020, Wien)

Anfang April hat mich die Zeit überholt, ich muss mir selbst die Maßstäbe setzen. In den Vlogs aus Wuhan tragen viele die Masken irgendwie, halten keinen Abstand, greifen Dinge an. Ich kann nicht mehr alles, was ich im Internet sehe, einfach auf- und übernehmen, ich habe die Zeit überholt. Ich muss selbst herausfinden, was gefährlich ist und nicht.

Einige Tage lang konnte ich keine Nachrichten aus Wuhan mehr lesen, weil es sich überall anders überschlagen hat. Jetzt gewöhne ich mich an die Nachrichten, die nicht mehr nur aus Wuhan kommen – und ich kann ein, zweimal am Tag nachsehen, was die Leute in Wuhan so tun – falsch: was sie posten, was sie tun. Viele holen sich Getränke oder das erste Mal Frühstück draußen. Die meisten machen schöne Fotos vor Gebäuden und Bäumen, dazu nehmen sie die Masken ab oder hängen sie sich unters Kinn wie die Wiener, sobald sie aus dem Supermarkt kommen.

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Wuhan V (April 2020, Wien)

In den letzten Monaten habe ich soviele Videos und Fotos von Wuhan gesehen, dass meine eigene Erinnerung davon überholt ist. Ich zweifle an, jemals dort gewesen zu sein. Vielleicht erkenne ich das Huanghelou nur, weil ich es so oft auf Fotos gesehen habe. Jemand dreht vor ein paar Tagen – nachdem der Lockdown in Wuhan beendet ist – einen kleinen Vlog, geht dabei auf die Alte, Große Yangtze-Brücke, filmt die Ufer und geht zurück, aufs Huanghelou zu. Ich seh die Fähranlegestelle, der Vlogger meint, von allen Arten, in der Stadt zu reisen, würde er die Fähre am meisten lieben, man könne am Reling stehen und die Flussluft atmen. Die Fähre hat sich in meiner falschen Erinnerung auch immer als die schönste Art, den Fluss zu überqueren, angefühlt. Am Reling stehen, die rote, untergehende Sonne anstarren, die Wellen.

Ich erschrecke, als die Ufer von Hankou und Hanyang ins Bild kommen: auf den Fotos muss ich es ignoriert haben, am Video sehe ich es deutlich: die Häuser, die damals die größten waren, die Landmarks, sind jetzt von zig viel höheren Häusern überbaut. Am ersten Abend in Wuhan stand ich am Ufer von Wuchang, links der Brücke und blickte auf die neuen leuchtenden Hochhäuser in Hanyang. Jetzt sind dort dutzende und ich kann nicht mehr erkennen, was ich damals angestarrt haben muss. Nur der Teil zwischen Fluss und Huanghelou ist niedrig und alt, wird vielleicht als solch alter Stadtteil geschützt. Damals habe ich ignoriert, wie viele Bäume es hier gibt – der Zug von Wuchang, den ich fast wöchentlich nahm, fuhr mitten durch und ich sah die Bäume nicht. Jetzt sitze ich in der Wohnung, viel zu viel und sehe, wie grün der Teil von Wuchang wirklich ist, immer noch. Es ist Frühling.

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Wie der Mond betreten wird

Der Mond ist ein runder Langflorteppich, eineinhalb Meter im Durchmesser, im Inneren einer in Form eines Achters, der Flugbahn der Apollo 11 nachempfundenen Sonderausstellung im Technischen Museum Wien. Krater und Rillen erscheinen, wenn jemand gegen die Streichelrichtung des Teppichs darüber schlurft. Am ersten Tag der Ausstellung ist der Teppich noch sauber, dann sammeln sich Krümel und Haare darin, von all den Stadttieren, die sich tagsüber unter den abgestellten Lokomotiven des Museums einrollen und sich nachts erst nach Sperrstunde hervortrauen. Die Schrift an den Wänden innerhalb der Flugbahn ist zu hoch, um von den Nachttieren des Museums gelesen zu werden, nur der Mond, von zwei Perlenvorhängen vom Rest der Ausstellung getrennt, ist erreichbar, der Teppich so einladend. Das blaue Licht, das die Mondoberfläche beleuchtet, ist nachts ausgeschalten. Die Tiere, die am Mond im Museum nachts schlafen, sehen die Erde nicht mehr.

Im Jahr 2019 ist es zu einem kleinen Spiel geworden, die Zuhörenden bei Erzählungen der Mondlandung zu fragen, wo sie waren, als der Mond zum ersten Mal betreten wurde. Der Mond, so wird gesagt, kann nur betreten werden, wenn man sich erinnert. Wenn sich jemand nicht erinnern kann oder rundheraus überzeugt lachend sagt, zu dieser Zeit noch gar nicht auf der Welt gewesen zu sein, dann hat die Mondlandung nicht statt gefunden. Um die Mondlandung mitzuerleben, musste man für fünfzig Jahre jeden einzelnen Tag auf der Erde miterleben: den nassen Asphalt, die Gewitter, all den Schluckauf, den dünnen Filterkaffee, die durchweinten Nächte, die geschälte Haut, die Gehaltsabrechnungen, die Einsatzwägen der Rettung, die immer um viertel Zehn vor den Nachbarhäusern erscheinen und blinken, bis man sie so sehr vergessen hat, dass der richtige Moment, hinter dem Vorhang hinab auf die Straße zu blicken und zu erkennen versuchen, wer dieses Mal dran war, vorübergeht ohne bemerkt zu werden. Im Jahr 1969 war man sich sicher, die Mondlandung wäre das allerwichtigste Ereignis der Menschheit, für immer. Dann kamen die Jahre, die Monate, die Tage, dann kamen die Knieschmerzen, die Todesfälle, die Entlassungen, das kaputte Türschloss, die Schlagzeilen, jeden Tag neue, der radioaktive Regen, die Kriege, das Internet, der Rauch, die Müdigkeit, die Sonne, jeden Tag neu, solange man sich an die Mondlandung erinnern kann.

Der Mond, der kleine Spiegel der Erde, hing schon immer am Himmel. Wie eine runde, an der Wand in Augenhöhe gewachsene Scheibe im Vorzimmer, in die man einen letzten Kontrollblick schickt, bevor man ausgeht. Was man sehen kann, kennt man: die Krater, die Alleen, Pfade der Mondbewohner, die sicherlich in Sandsteinhöhlen leben, weil die Mondoberfläche so lebensfeindlich erscheint. In dem gespiegelten Gesicht müssen dieselben Strukturen unter der Haut vorhanden sein, die man an sich selbst ertasten, aber nicht betrachten kann. Die Mulde in der Wange, die langsam größer wird, in der der Kieferknochen langsam zurückgeht, die vor Nordwindtagen schmerzt, in der war früher ein Meer: als Jugendlicher hatte man einmal eine Meeresmuschel gefunden in einem Gebirgsbach, 170 Kilometer von den letzten Blasen einer aufgeworfenen Meereswelle entfernt. Undenkbar, dass das betrachtbare, gespiegelte Gesicht aus etwas anderem besteht als aus Knochen, Schalen, Sehnen, Muskeln, Salz, Fettgewebe: undenkbar, dass dieses Gesicht, würde man es einmal mutig berühren, nicht zurückweichen, sondern starr und gläsern nach und nach den berührenden Finger abkühlen würde.

Der Mond ist ein eineinhalb Meter im Durchmesser spannender Langflorteppich, im Herzen einer kleiner Sonderausstellung zur Mondlandung im Technischen Museum Wien, neben der ein riesiges Plakat eine alte Fotografie der Station Großmarkthalle der Elektrischen zeigt, die ab 1914 zwischen Wien und Bratislava verkehrte. Das Plakat ist fast so groß wie die gesamte Ausstellung und selbst der kleinste Kopf eines ehemaligen Passanten neben dem Wagen der Elektrischen ist größer als das Stück Mondgestein, das daneben als Leihgabe des Naturhistorischen Museums ausgestellt wird. Das Mondgestein wurde großzügig verteilt, die 380 Kilogramm in Etappen auf die Erde geliefert und zerstreut: mehr als die Hälfte der verschenkten Mondsteinchen so gut verteilt, dass sie als verschollen gelten.

Der Mond, der kleine Vorzimmerspiegel, zeigt seine Meere, Mulden, Krater denen, die in ihren Händen seine kleinen Steine halten können, wie ausgehoben aus den Löchern. Die Lichter, die vor vierhundert Jahren am Mond beobachtet, notiert und den in Sandsteinhöhlen lebenden Mondbewohnern zugeschrieben wurden, sind die Reflexionen von all den 180 Tonnen Gegenständen, die im Gegenzug in der Zukunft zurückgelassen werden würden: Wägen, Geräte, Hüllen, Vogelfedern, Fotos. Beim letzten Blick in den Spiegel vor dem Ausgehen leuchtet die Straßenlaterne vor dem Fenster so verkehrt aus dem Spiegel heraus, dass man zurückgehen und kontrollieren muss, ob die Zimmerlampe tatsächlich ausgeschalten ist. Um das zu Überprüfen, schaltet man das Licht ein und wieder aus. Aus dem Spiegel blinkt es ein letztes Mal auf, bevor die Mondoberfläche in Dunkelheit versinkt: die Sandsteinhöhlenbewohner rühren sich nicht, die Tiere auf dem Teppich schlafen ein, die Gleise der Elektrischen werden abgetragen. Es wird leicht zu vergessen, dass man zur Zeit der Mondlandung nicht auf der Welt gewesen ist, auf die eine oder die andere Weise.

Was an langen Wochenenden in meinem Büro entsteht

Das Osterwochenende ist nicht lang, wenn man sich keine zusätzlichen Urlaubstage nimmt. Am Samstag werden für zwei einkaufsfreie Tage Besorgungen erledigt, an den zwei einkaufsfreien Tagen wird aufgegessen, was herangeschafft wurde. Dazwischen wachsen die kleinen Sommerblumensprossen am Balkon, zwei Autos krachen davor ineinander, einen Block weiter wird kurz auf der Straße getanzt, eine Hochzeit. Es kommen Wolken in die Stadt und ich schlafe schlecht.

Am Dienstag gehe ich ins Büro und alles ist sonderbar still: der Bus noch leer, niemand schlägt Räder im Park, nur wenige streben dem Gebäude zu, im Stiegenhaus am lautesten der Wind von den paar Fenstern, die geöffnet wurden, um den eingeheimsten Jesus wieder herauszulassen.

Am Gang vor meinem Büro sind Stimmen zu hören, mein Schlüssel klimpert lauter. Die Stimmen kommen aus meinem Büro. Das kann ich hören, weil jedes Büro seinen eigenen Klang hat. Nebenan aus dem Professorenbüro klingen alle Geräusche und Gespräche stets nach Professorenbürogeräusche. Aus meinem Büro klingt immer alles verhalten und weich. Es muss der Unterschied sein zwischen fremden Körpern und dem eigenen, wie man alles verschieden wahr nimmt. Aus meinem Büro kommen weiche fremde Stimmen, als hätte sich ein kleines Meeting eingenistet. Der Schlüssel im Schloß ist zu laut, die Tür heult, das tut sie schon lang, sie hat das Geräusch aus meinen Fingern gezogen und kultiviert.

Kurz erwarte ich, den emeritierten Professor anzutreffen, vielleicht hat er sich Doktoranden eingeladen oder einen Kollegen. Sonst ist nie jemand in meinem Büro, der nicht zu mir kommt.

Ich öffne die Tür und sehe niemanden. Ich muss das Licht anschalten, es ist ein bewölkter Tag, ich hatte den Vorhang zugezogen, damit sich nicht schon versehentlich in meiner Abwesenheit der Sommer ins Zimmer schleicht, der alles brenzlig werden lässt.

Es ist niemand da. Mein Büro ist noch immer das Sammelsurium an Zufällen, in der Zusammenstellung, seit ich hier angefangen habe: eine Pflanze, die jetzt ein neues Blatt bekommt, über das Osterwochenende ist es 3 Millimeter gewachsen. Meine Formularmappe, mein PC. Die Box mit den riesigen gezeichneten Plänen, die manchmal zerbröseln, an den Ecken, wenn man lüftet. Das Waschbecken mit dem Spiegel, den ich ganz praktisch finde, falls ich im Büro anfange, seltsam auf mich selbst zu wirken. Sessel, Tische, eine alte Schreibmaschine, nicht alt genug, um hübsch auszusehen, aber alt genug, um ordentlich Staub und schlafende Hornissen anzusetzen. Es ist still.

Neben der Tür hängt noch immer Reinhold Messner, den der emeritierte Professor aufgehängt hat, auch er ist still. Die Kästen sind verschlossen und zittern nicht einmal auf die Weise wie sie es oft tun, wenn im angrenzenden Seminarraum etwas auf die Tafel gezeichnet wird. Die Kisten unter den Tischen und auf den Schränken, in denen Geheimnisse oder Tote liegen, stehen unverändert verschlossen herum.

Ich gehe mir die Hände auf die Toilette waschen, ich traue dem Waschbecken im Büro nicht, es wird kaum verwendet. Mir ist klar, dass es ziemlich unsinnig ist, mir die Hände zu waschen und davor und danach den dreckigen Schlüsselbund in der Hand zu halten, zu bewegen. Noch nie habe ich eine Geschichte gelesen, in der mit nassen Schlüsseln etwas aufgesperrt wird, vielleicht sperren nasse Schlüssel nicht. Ich bin vorsichtig, ich möchte nicht am Gang landen, während meine Jacke und meine Tasche eingesperrt ist mit unsichtbaren murmelnden Personen.

Mit dem trockenen Schlüssel sperre ich sacht die Tür auf, leiser als die von innen vernehmbaren weichen Stimmen. Die Tür aber heult auf, sie kann nicht anders.

Ich sehe drei Schatten unter dem hinteren Schreibtisch, auf dem die mittelalte Schreibmaschine (und eine Spielzeugschreibfeder und zwei Kaffeehäferl, die innen Staub angesetzt haben) steht, verschwinden. Es ist eindeutig Eduard Mörike, dreimal, dreimal mit Brille. Ich kenne mich nicht gut mit den Gesichtern von Menschen aus und brauche lange, um mir welche zu merken. An mir sind sehr viele Berühmtheiten schon beim Einkaufen vorbeispaziert, es fiel mir nicht auf.

Einige Gesichter gibt es allerdings, die brennen sich ins Gedächtnis, wenn man sie einmal gesehen hat, sodass man sie fortan überall wiedererkennt: auf den Fotografien von Kurzkopffröschen, auf Reisetaschen, Häuserfassaden, im Kartoffelpürree, im Spiegel. Überall das Gesicht von Eduard Mörike, manchmal mit, manchmal ohne Brille.

Was soll ich sagen, es ist in Ordnung. Unter dem anderen Tisch liegen die Toten und die Scherben, liegt eine eingerollte, alte Schreibtischlampe, liegt ein halb umgeschlagener Plastiksack, in den ich nach neun Jahren immer noch nicht reingesehen habe. Jetzt halt auch noch dreimal Eduard Mörike. Ich werde mich räuspern, bevor ich die Tür aufsperre, ich werde die Pflanze, nachdem ich sie kurz unter den Wasserhahn am Waschbecken gehalten habe, wieder ganz sacht zurückstellen auf den Tisch. Ich werde Eduard Mörike nicht wecken, wenn er vielleicht gerade schläft.

Woran man merkt, dass der Frühling kommt

Am Balkon taut mein Aschenbecher und verschluckt alle Stummel, die ich in das Eis gesteckt hatte, wochenlang. Auf meinem kleinen Ipod erscheinen K-Pop-Lieder, mindestens zwei Saisonen alt, die ich niemals raufgeladen habe. Eichhörnchen laufen erst dann scheu davon, wenn sie einem am Weg ins Büro die Brille abgenommen und probeweise kurz getragen haben, die Brille bleibt allein liegen auf der feuchten Erde, aus der noch keine Blumen kommen. Die Luft ist dick wie ein Butterblock, man kann seinen Schlüssel auf Augenhöhe hineinlegen, er fällt nicht zu Boden. Die Vögel stehlen ihn, die kleinen, die man nur am lauten Geschrei und den glitzernden Schlüsselringen erkennt. Die Winterkrähen verlieren ihr Dämmerungsfell und fliegen in weißen Gruppen durch den Himmel, stumm, damit man sie nicht mehr von den Wolken unterscheiden kann.

In den Möbelhäusern, Baumärkten und im Lebensmittelhandel versammeln sich Scharen von Hasen. In ihren kleinen Pfoten halten sie Blumen, Eier, Herzen, andere Hasen, Geschenkbeutel, Schafe, manche tragen sehr schwer. Jedes Jahr sind es neue Hasen, sie kennen sich nicht aus. Jemand muss ihnen aber, sobald der Frühling kommt, flüstern, dass sie nichts und niemandem etwas schuldig sind, dass sie keine Opfer bringen und niemandem die Aufwartung machen müssen. Sie können ihre Pfoten senken, sie können ihre Mitbringsel verstauen, sie können die Eier heimlich unter die Regale kullern lassen. Und sie werden verschwinden, einer nach dem anderen, bis kein Hase in der ganzen Stadt mehr aufzufinden ist, weil sie niemandem etwas schuldig sind.

Wo die ersten Städte in der Steiermark entstehen

Ich war heute im Museum für Geschichte in Graz und mir sind dort sehr viele Fragen begegnet. Eine habe ich aufgegriffen und beantwortet:

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Viele Städte sind aufgebaut wie Obst: sie besitzen eine historisch gewachsene Außenwelt, ihren Baum, eine von Menschenhand zusammengenähte Schale, die sich manchmal nur noch in einzelnen Fetzen, die von Fenstern und Wäscheleinen herunterwinken, erkennen lässt, sie besitzen Kerne. Schon früh habe ich von einem der größten Mysterien Österreichs gehört und noch ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht darüber nachdenke: es handelt sich um das Kreuz in der Nuss. (siehe z.B. Sage vom Erzberg)

Bei dem Kreuz in der Nuss handelt es sich um eine Art der Kunst wie Geister Menschen demütigen. Egal, was Menschen gegenüber Geistern als Wünsche kundtun oder tun, egal, wovon sie sprechen, alle Geistern können ihnen, bevor sie für immer verschwinden, noch zuflüstern: Warum hast du nicht nach dem Kreuz in der Nuss gefragt. Wassermänner flüsterten es, Berggeister flüsterten es, ich flüstere es gerne, wenn ich mit jemandem im Bett liege und derjenige bereits eingeschlafen ist und ich noch voller Geheimnisse, die es zu erzählen gibt: Warum nur hast du mich nicht nach dem Kreuz in der Nuss gefragt.

Aus solchen Nüssen, stelle ich mir vor, entstehen die ersten Städte der Steiermark. Aus den weichen Innentaschen der Walnüsse, aus den hohlen Herzen der Haselnusskerne, aus der allobservierenden Kastanie, die, tief aus dem feuchten Herbstlaub heraus, versteckt vor den gierigen Sammlerfingern, herausschaut und auf ihrem Gesicht versucht die Mondoberfläche so abzubilden, wie sie sich an sie von früh her erinnert. Lange müssen die steirischen Stadtnüsse nicht auf der Erde liegen: es regnet, es nebelt, es geht kaum ein Wind: zwei Beine bohren sich aus der Nussschale, der Schnabel pickt von innen ein Loch, er wird später einen Stadtturm stellen mit Ziffernblättern in den Nüstern, durch die die Zeit hindurchbraust. Zwei Sommer dauert es, bis diese ersten Stadtpflanzen, hervorgebrochen aus den Kernen, wiederum Früchte tragen, die, eine Weile müde am Boden gelegen, ohne viel Elan den Krähenschnäbeln und Eichhörnchenpfoten ausgewichen, schließlich aufbrechen, meist an den Stellen, an denen sich die Attribute die Nischenheiligen forsch an die Schale gedrängt haben: die Sterne einer Muttergottes drängen als Kopfkamm eines neuen Bürgerhauses, das Jesusgewehr des heiligen Nepomuk als Flügelspitze einer frischen, noch ganz verklebt vom Öl im Nusskern.

Aber machen ein Ziffernblatt, zehn Heiligennischen, ein Erkerfenster und der Spazierstock des ersten, neugierigen Mannes, der gleich der Einfachheithalber zum Bürgermeister erklärt wird, weil alle, die ihm nachfolgen, noch tagelang damit beschäftigt sein werden, die einzelnen Winkelgänge ihrer Nusshäuser zu erkunden, die Pfeile eines heiligen Sebastians nachjustieren und all die plötzlich sprießenden Wetterhähne vom Nussöl sauberpolieren müssen, denn schon eine ganze Stadt aus? Und zittern und winden sich unter den neu ausgerollten Bürgersteigen, unter den noch ganz unbeholfen im Wind baumelnden Ampelanlagen und den noch gänzlich unbeklebten Litfasssäulen nicht noch einige Nüsse und sind nur sanft als Erschütterung einer Straßenbahn, die es drei Jahrzehnte noch nicht geben wird, von den Fußsohlen der ersten Bewohnerinnen dieser vielleicht ersten Städte der Steiermark wahrnehmbar?

Wieviele Spazierstöcke, wieviele Heiligennischen, wieviele aufgebrochene Nüsse und am Ende doch verwelkte Arme von Krankenhäusern, vor der Blüte vertrocknete Kinderkarusselle braucht ein Ort, um zu einer Stadt zu werden? Ob die Kinder dieser vielleicht ersten Stadt nicht immer auch erst auf die Geister der ersten Nüsse treffen müssen, die ihnen gestellten Fragen ein bisschen unbeholfen, aber noch mit unverbrauchtem Mut beantworten, die geforderten Wünsche kundgeben und dann, mit den Händen voller Silbermünzen und einer nachwachsenden Feder auf einem Hut, der einen mit nur einem Wimpernschlag gleich zwanzig Meilen weiterträgt und am Ende doch auch immer öfter Platzreservierungen erfordert und Hutwärterhäuschen und laut in die Berge klingende Signalanlagen, weil sonst die sich weiterwünschenden Hutträgerinnen versehentlich auf den Schultern von jemandem landen, der diesen Platz schon besetzt und sie abschüttelt wie ein Walnussbaum im Herbst? Werden sie dann, die Hände voll, den Kopf behütet, sich zufrieden wieder von den Geistern entfernen und wird dann nicht der Geist ihnen leise hinterher murmeln: Aber nach dem Kreuz in der Nuss hast du nicht gefragt, natürlich nicht, und wird dieses Gemurmel nicht schon in den Rufen am Marktplatz, im Hupen der Taxifahrer, im Schreien eines headsettragenden jungen Mannes, der verzweifelt versucht, die Geschichte von Rumpelstilzchen nachzuerzählen, ohne nicht gleich am Anfang den richtigen Namen zu verraten, untergehen und die Kinder dieser Stadt, die eine in dem Moment geworden ist, in dem das Flüstern des Geistes untergegangen ist und kein Kreuz in der Nuss ihnen mehr nachhängt?

Manch eine Erklärung gibt es für dieses Kreuz in der Nuss und wäre ich gezwungen, die zum heutigen Tage für mich glaubwürdigste Wahrheit aufzuschreiben, ich würde schreiben: Das Kreuz in der Nuss referiert auf das Ortungssystem, das Eichhörnchen für sich entwickelt haben, um von ihnen vergrabene Nüsse Monate später wieder aufzufinden. Kein Eichhörnchen dieser Welt hüpft desorientiert durch den Wald und gräbt vergeblich, denn wo die Füße der Hörnchen den Boden berühren und die Nuss nah ist, glüht ihnen das Kreuz darin auf. Wie Reliquien leuchten diese Nüsse dann durch das Erdwerk, je näher und großpfotiger das Eichhörnchen, desto heller.

Die Geister denken nicht von uns, wir wären Eichhörnchen, aber sie wissen wohl, dass wir auch sehr Vieles vergraben: das Wertvollste und das Unheimlichste, das uns Verhassteste und das Peinlichste. Wir schieben es unter die Kopfpölster auf denen wir den Geistern begegnen, die uns nachflüstern, als letzte Traumerinnerung, die wir fälschlicherweise auf einen in den Traum eingedrungenen Weckerton identifzieren, warum wir nicht nach dem Kreuz in der Nuss gefragt haben. Warum wir nicht gefragt haben, wo unsere Nüsse liegen, mit den leuchtenden Kreuzen, mit den Kernen, aus denen alles irgendwann einmal hervorbricht, aus denen die Wände und die Türklinken und Lavalampen und Schnürsenkel und Kaffeemaschinen gewachsen sind, die uns umgeben. Wo die vergrabenen Nüsse liegen, entstehen die ersten Städte, wachsen und schütteln ihre Früchte ab, die wiederum vergraben, schwach Kreuze leuchten unter unseren Schritten, nicht wahrnehmbar für die, die nicht danach gefragt haben.

Woraus die Vergangenheit entsteht

Ich bin an dem Tag geboren, an dem mich Marianne mitnimmt zu ihrem Onkel, der neben der Schnellbahn wohnt. Wo er wohnt, stehen in Kleingärten Kleinhäuser neben heißen, großen, scharfkantigen Steinen in Gleisbetten, die nach Blut riechen, aber nur, solange die Sonne darauf scheint. Manche Kleinhäuser sind ausgebaut, aber noch lange keine Großhäuser, aber hinter ihnen stehen aufgestellt Schwimmbecken und Sandmuscheln und Bäume, die Wäscheleinen tragen, auf denen T-Shirts flattern, die nach Blut riechen, aber nur, solange die Sonne darauf scheint.

Mariannes Onkel hat kein Schwimmbecken und Mariannes Spielzeug im Garten vom Onkel ist das anderer Kinder. Mariannes Onkel hat keinen Namen und existiert auch nicht recht, Marianne hat keine Tante, der Onkel ist aus dem Nichts erstanden, aber eine Hand hat er, die Schillinge abzählen kann, die Marianne und ich dann zur kleinen Hütte, die am Eingang zur Siedlung steht, tragen, eine Hütte mit kleinem Garten, aber keinem Schwimmbecken, keiner Sandmuschel, sondern drei Bierbänken und einer Eistruhe, die nach Blut riecht, wenn die Sonne zu lange darauf scheint.

Marianne nimmt mich mit zu ihrem Onkel, weil sie weiß, dass es ein Tag aus der Zukunft sein wird, an den ich mich erinnere, der in mir entsteht, weil ich vorbeifahre an den Siedlungen, in denen Marianne ihren Onkel besuchen geht und mich mitnimmt, ein Tag, an dem wir seine Schillinge entlang von Bahngleisen tragen und man lässt mich von Marianne mitnehmen zu ihrem Onkel, weil man an den Onkel glaubt: es gibt einen Onkel, der holt sie ab von der Bahnstation, die da direkt vor der Schranke der Kleingartensiedlung steht, die nach Blut riecht, wenn die Sonne zu lange darauf scheint.

Das Einzige, was außer den Händen des Onkels vom Onkel noch in Erscheinung tritt sind zwei abgerissene Kinderfüße, die, am gegenüberliegenden Gleisrand sich in jeder alten Zeitung, in jedem Plastiksack, in jedem tatsächlich nachlässig hingeworfenem Erwachsenenschuh abzeichnen, wir stoßen uns Ellbogen in die Oberarme gegenseitig und sagen: da, das sind sie. Es sind die abgerissenen Kinderfüße des kleinen Peter, der am runden Schranken des Bahnüberganges, der hinter dem Eingang zur Kleingartenkolonie liegt, Räder geschlagen hat, am Schranken geturnt hat, als wäre es ein Reck oder eine Teppichstange, der, kopfüber hängend, die Geschwindigkeit der Schnellbahn unterschätzt und seine Fähigkeit, die Knie abzuwinkeln beim Zurückschwingen in die aufrechte Position überschätzt, der nicht schnell genug war, dessen Füße in den Turnschuhen mit den Klettverschlüssen von der Schnellbahn abgerissen und auf die andere Seite geschupft worden waren. Wie die Peterfüße in den Schuhen auf die andere Seite gefallen sind, während der fußlose Peter auf der einen auf den Boden plumpste und schon ohnmächtig war, bevor er schreien konnte, erzählt der Onkel in Sätzen, die sich in der Zeit ausdehnen, die auf die andere Seite der Bahn fallen, die dreißig Jahre überleben, als leere Trinkbecher, als weggeworfene Taschen, als ausgefranste Weinkartons, die neben den Schienen liegen und in denen wir die Füße in den Schuhen vom Peter erkennen zu glauben, weil sie niemals skelettieren.

Was auch niemals skelettiert, ist das Eis, das wir an der Hütte, die am Eingang zur Siedlung steht, nicht kaufen, wir behalten die 5 Schilling, wir halten sie solange in unseren Händen, bis sie nach Blut riechen und schauen hinüber auf die andere Seite der Gleise, wo ein Packen alter Zeitungen liegt, die auch die Füße vom Peter sein könnten und wenn sie lange genug in der Sonne liegen, riechen sie nach Blut.

Die fünf Schillinge lösen sich auf wie meine Großmutter, die mir, bevor sie tot ist, eine einzige Geschichte erzählt: die Geschichte von Karin, die drei Tage vor Weihnachten im Vorgarten ihrer Eltern einen Schneemann baut, dann aber keine Arme, Augen und Nase findet und sich, auf ihrer Suche nach den Schneemannattributen immer weiter vom Haus entfernt, die Straße überquert, überfahren wird und fünf Stunden später erst von ihrer Mutter gefunden. Sie erzählt die Entfernung Karins vom Elternhaus so langsam und betont wie Mariannes Onkel die Füße von Peter in seinen Schuhen, die im Bogen über die dahinrasende Schnellbahn auf die andere Seite der Gleise fliegen, gleich, denke ich, müssen wir losgehen und Karin suchen, die an einem Dezembernachmittag verloren gegangen ist und überfahren im Schnee liegt und wir werden sie in allem erkennen, aber meine Großmutter legt, nachdem Karin tot ist, die Tageszeitung nieder, aus der sie diese Geschichte vorgelesen hat, es ist Mai und bald darauf ist auch sie tot.

Es ist leicht, mir im Mai eine Geschichte aus der Zeitung vorzulesen, in der ein Kind in der Vorweihnachtszeit verloren geht. Noch leichter ist es aber, mit der Schnellbahn nach Norden über die Station Floridsdorf hinauszufahren: dort überall wohnen Onkel von Freundinnen in den kleinen Häusern neben den Ausläufern der Gleisbettsteine, die, wenn die Sonne lang genug darauf geschienen hat, nach Blut riechen und in den Zufahrtswegen, die staubig und steinig sich in die Kindersandalen der Vergangenheit drängen, sind noch die Fußspuren zu erkennen: von zwei kleinen Mädchen, zu jung, um lesen zu können, zu jung, um diese Kleingartenkolonie der Onkel zu verstehen, aber alt genug, um zu wissen, dass wir die Schuhe vom Peter nicht eindeutig erkennen müssen, alt genug, um zu wissen, warum alles, von dem wir erzählt bekommen, nach Blut riecht, wenn die Sonne länger darauf scheint.

Wie man sich Schimmel heranzüchtet

Mit Brot und Zucker kann man ganze Welten erschaffen. Eigentlich ist es dasselbe, sagt Herr B., der Biologielehrer und teilt abgerissene Stücke eines Brotlaibs aus mit seinen bloßen Händen. Manche Schüler halten die Hand auf, anderen legt er das Brotstück auf die abgeschliffene Schutzhülle des Biologiebuches. Kaut es zehn Minuten lang, sagt Herr B., und schaut, wie es süß wird in eurem Mund, worauf in der ersten Reihe Mario plärrt: Herr Lehrer, ich habs verschluckt.

Ich habe genug Brot in meinem Leben gegessen um zu wissen, dass es nicht zu Zucker wird, dass es niemals süß wird, dass es nur beginnt, nach den verlorenen Alpträumen der Mundhöhle zu schmecken, wenn man es lange, sacht im Mund herumträgt. Mein anderes Experiment, das bei weitem interessantere, ist so weit gediegen, dass es aus meinen Schreibtischschubladen zuhause manchmal leise wiehert. Ich stecke das Stück Brot schnell hinter den Heizkörper, während Herrn B.s Rücken das restliche Brot zu Mario in der ersten Reihe bringt.

Zu Brot und Zucker sollte man Wasser hinzufügen, man kann es aber auch voraussetzen. In einem Raum, in dem sich 28 Schüler täglich mehrere Stunden lang aufhalten und die Fenster geschlossen bleiben, seit Kerstin Tabithas Pager während einer Geschichtsstunde, in der kurze Videosequenzen aus der Zeit der Errichtung der Großen Druckerpresse gezeigt wurden, geschnappt und rausgeworfen hatte, worauf unten im Schulhof später eine bewusstlose Amsel neben dem zerbrochenen Pager gefunden wurde, kondensiert sich ohnehin eine große Menge davon. Es rinnt an den Scheiben über die Fensterbänke hinter die Heizkörper und während in den Pausen einige Schüler ihre Finger an den Scheiben befeuchten um an der Tafel Glücksrad zu spielen, nachdem die Lehrerinnen die Kreide beim Pausenläuten nun jedes Mal sorgsam einpacken, weil sich so eine Geschichte wie die mit Julius nicht mehr wiederholen sollte, zumindest, solange Julius aus dem Krankenhaus nicht wieder zum Unterricht erschienen ist, schaue ich den Tropfen zu, wie sie hinunterlaufen, in die Kehle meines zukünftigen Schimmels. Es ist verboten, Tiere in das Schulgebäude mitzunehmen, aber ich habe nichts mitgebracht, ich sitze nur hier und warte, während an der Tafel die Buchstaben so schnell trocknen, dass sie von den mitspielenden Schülerinnen mehrfach gekauft werden müssen.

Aus meinem Schreibtisch im Kinderzimmer staubt es, besonders wenn man die Schubladen zu schnell öffnet. Das sind die alten Wurstbrote, die nun über angeknabberte Schnellhefter und ausgeklebte Stickerbögen galoppieren. Ich muss die Schubladen schnell schließen, bevor eines auskommt und sich irgendwo in der Wohnung versteckt. Solange das Experiment in der Anfangsphase ist, sollten sie nicht über die Größe hinauswachsen, in der ihre Ohrenspitzen den Boden der darüberliegenden Schublade berührt. Nachts schlafen sie. Am Balkon sterben Taubenküken und manchmal denke ich, es ist, weil sie das Brot nicht lange genug im Schnabel gehalten haben, bis es in der dunklen Kathedrale dieses Vogeleingangs kleine Lebenssprossen herausbilden konnte, die zu Hufen, Nüstern und bunten Bändern in einer weißen Mähne wuchsen. Das hätte ihnen vielleicht die Lebensenergie bewahrt.

Manchmal vergisst man die Wochenenden und im Bankfach bleibt das Buch liegen, das man zum Lernen für die Schularbeit am Montag benötigt hätte, oder der Gameboy. Ein ganzes Wochenende musste ich mit Zähnen verbringen, die so frei waren, dass ich nachts davon träumte, ohne Aussicht auf ein Ufer durch einen glitzernden See zu schwimmen und das einzige, was mich oben hielt, waren allerhand Hundestirnen, die meine Fußsohlen immer wieder nach oben schubsten, denn mit den Füßen tief unter der Wasseroberfläche schwimmt man nicht, sagt Frau V. die Turnlehrerin, so schwimmen nur Enten, die das können, weil sie kleine Flugzeugträger sind mit einem Bauch voller Luft. Meine Zahnspange war am Montag noch immer im Bankfach und roch leicht nach Humidor. Am Montag ragt ein großer, weißer Pferdekopf aus dem Heizkörper hervor und er macht keinen glücklichen Eindruck. Der Schulwart wird gerufen, aber er verlässt das Klassenzimmer sehr schnell wieder um die Feuerwehr anzurufen und um nach einer halben Stunde, als John, wie wir es genannt haben, schon in einer Schachtel hinten im Regal liegt, weil Herr B. für eine neue Präparation erst den Spiritus beim Landesschulrat beantragen muss, mit einer dicken, weißlichen Karotte in der Hand zurückzukehren. Er wird später gedankenverloren selbst daran kauen, während Herr B. sich seufzend darüber auslässt, dass der Spiritusantrag immer besonders lang dauert, aber er sicher selbst das Zeug nicht besorgen würde, dass sich die Schule eben selbst an der Nase nehmen solle, wenn, seit der Fledermaus, die in einem löchrigen Medizinball eingeschlafen war und von jemandem aufgeweckt wurde, der in seiner Turnhose wohl sehr laut schrie aber nun nach einem erfüllten Leben als Druckerpressendirektor und Vater von Drillingen, die alle in ihrer Berufslaufbahn einen gewissen Hang zur Floristik erkennen lassen hatten, schon gute 30 Jahre tot war, nichts mehr präpariert wurde.

Die Feuerwehr ist so schnell da, als würde das Gebäude in Flammen stehen. Wir aber wissen nicht, ob John jemals Geräusche von sich geben hatte können, denn an diesem Montag bereits ist er schon sehr müde und still. Sein Kopf ist doppelt so groß wie sein Körper und seine Hufe spitz und eiskalt. Am abmontierten Heizkörper kann man auf der Rückseite die Kratzspuren entdecken und auch eingetrocknetes Blut. Das ist schade, sagt eine Feuerwehrfrau, wirklich schade, ich habe selbst einen Pflegeschimmel am Land, es sind die treusten, freundlichsten Geschöpfe. Wenn man sie richtig auswachsen lässt, laufen sie schneller als all die anderen. Sie hält John in ihren Armen, während er das erste Mal so richtig tief Luft holen kann, aber dabei reißt etwas in seinem Inneren wohl und die Feuerwehrfrau kann bald keinen Puls mehr finden.

Herr B. hält an diesem Tag für die restliche Schulstunde keinen normalen Unterricht mehr, sondern steht vor der Tafel, an der die Stapel der mehrfach eingekauften Buchstaben nicht mehr zu erkennen sind und seine Stimme hat durchaus etwas so Donnerndes, wie es der Situation angemessen ist. Man macht keine Experimente mit Lebewesen, wenn man kein Experte ist, sagt er und schaut in einem kontrollierten Halbkreis von links nach rechts um den Eindruck zu erwecken, er hätte uns allen in die Seele geblickt. Man macht keine Experimente, denn es kann so viel schiefgehen und John, sagt er, während er nach hinten aufs Regal deutet, John ist das letzte Lebewesen, das so ein missglücktes Experiment verdient gehabt hätte. Es würden, sagt er weiter, wohl demnächst die Heizkörper verbaut werden, aber bis dahin appelliert er an unsere Vernunft.

John wird das erste und das letzte selbstkonservierte Präparat meiner alten Schule. Der Spiritus wird am selben Tag geliefert, an dem auch Julius das erste Mal nach so langer Zeit wieder am Unterricht teilnehmen darf. Er sitzt in der ersten Reihe, wo auf uns, die wir hinter ihm sitzen, der helle Schimmer seines neuerdings weißen Haares fällt und hat einen der besten Blicke auf die Präparation von John, dessen Augen mittlerweile sehr eingefallen sind und dessen Beine sich, als wäre er sehr schüchtern, zu einem kleinen Strauß zusammengezogen haben. In der Pause lässt er sich von uns erzählen, wie wir John gefunden haben, seine Augen feucht, weil er es so schade findet, es verpasst zu haben, wenn endlich mal etwas passiert.

Wie man als Kind einer Allegorie aufwächst

Einem Kind bleiben Stillleben ihrer Eltern im Gedächtnis erhalten, weil die Eltern jeden Tag dieselben Dinge tun, während das Kind jeden Tag wächst. Es bewegt sich um die Eltern, die nahezu unbewegt an einer stark befahrenen Kreuzung stehen, den Mund verziehend, angeleuchtet von den verschiedenen Jahreszeiten. Das Kind einer Allegorie wird sich daran erinnern, wie sie in der Küchentür stand, ihre Attribute in der Hand.

Das Kind der Allegorie geht hungrig zur Schule, denn die Mutter hält das mit Butter bestrichene Brot so hoch, dass das Kind jeden Morgen versucht hüpfend das Brot mit den Fingerspitzen zu erreichen, aber es doch nicht schafft. Es wächst, die Distanz zum Brot verringert sich, aber die Allegorie hält die Scheibe immer höher. Das Kind hat nicht viele Freunde in der Schule, es ist nicht echt, sagen die anderen, es schimmert so durchsichtig, wir wollen nicht mit ihm spielen. Niemand teilt seine Jause mit ihm, nur der Mann im Schulbuffet steckt ihm manchmal etwas zu.

Im Unterricht drehen sich die anderen oft zum Kind um und versuchen, Scherze über seine Mutter zu machen. Die Bilder in den Schulbüchern, auf die sie dabei deuten, zeigen Frauen, die Grabkränze, Schraubenzieher oder Schnupftabakdosen in die Luft. Das Kind hat aufgehört, hinzusehen, es sind alles keine echten Allegorien.

Das Kind trottet an den Hecken entlang nach Hause, ein Schlüssel baumelt schon an der Hand. Aber zwei Männer stehen vor der Wohnungstür, sie halten der Mutter ein Formular auf einem Klemmbrett mit Stift zum Unterschreiben hin, aber die Mutter kann nicht, sie muss die Waage halten und selbst, wenn sie die rechte Hand frei hätte, so würde sie nicht sehen, wo es zu unterschreiben gilt, denn ihre Augen sind verbunden.

Die Männer betreten die Wohnung vor dem Kind, es nimmt seinen Ranzen nicht ab, läuft den zweien hinterher. In der Hand halten sie nun Etikettenbögen, von denen sie Aufkleber abziehen, auf ihnen ist überall dieselbe Silhouette einer Frau, die einen Vogelkäfig trägt, abgebildet. Diese Aufkleber streichen sie auf all die Objekte, die sie im Haushalt der Allegorie finden, die ihnen wertvoll erscheinen: das Butterbrot, eine Sichel, die kleine hellgraue Katze, ein Stundenglas, die Tortenform, eine Schalmei, ein Weinstock, die Fernbedienung eines verlorengegangenen Spielzeugjeeps, den Dreizack und eine Sektflöte. Hintendrein läuft die Allegorie, aber nicht schnell genug, sie stößt an die Türstöcke, ihre Waagschalen klirren.

Das Kind wird sich erinnern, wie die Allegorie in der Küchentür stand, die Augenbinde mit dunklen Flecken, das Kind muss sich erinnern an die Telefonnummer des Reiterstandbildes, eine Nummer, die nur selten gewählt wird, meistens, wenn die Allegorie, an einer Hand das Kind, an der anderen den riesigen, gelben Plüschelefanten, aus der Tür zu stürmen versucht. Sie wird für immer dort stehen, Kind und Elefant an ihren Seiten, während sich das Kind aus dem Attribut zu lösen versucht und auf den Platz geht. Unter dem Bauch des bronzenen Pferdes ist es trocken, man kann sich an die Beine lehnen und falls die Kleidung des Kindes am Rücken davon schmutzig würde, so wäre es am nächsten Tag in der Schule vielleicht nicht mehr so durchsichtig.

Wie man als Zwilling ohne Zwilling lebt

„Ich habe das Gefühl, dass das Kind gewissermaßen wie mein siamesischer Zwilling zu einem Teil meines Körpers geworden ist. Der Gedanke, mich von ihm zu trennen, erscheint mir zu gefährlich, ja sogar noch waghalsiger, als einen im ganzen Körper ausgebreiteten Tumor zu entfernen. Das Kind, das ich bin und zugleich nicht bin; der ewig Siebenjährige, der im Körper einer siebenunddreißigjährigen Frau lebt und niemals geweint hat.“
(Cheon Woon-young: Ihre Art des Weinens, S.54)

 

Zwillinge sind seltsam. Sie veranstalten Treffen, ziehen sich identisch aussehende Kleidungsstücke an, heiraten andere Zwillinge, veranstalten Treffen, machen Fotos für das Internet. Das ganze Internet ist voll von Zwillingsfotos. Viele Zwillinge werden Fernsehstars, manche werden Astronauten. Zwillinge eignen sich sehr gut für so etwas.

Als ich noch ein Einzelkind war, gab es keine Zwillingspärchen, die ich kannte. Als ich noch ein Einzelkind war, hatte ich einen Stiefbruder, den ich angeben konnte, auf die Frage, ob ich denn Geschwister hätte und als ich noch ein Einzelkind war, fiel mir keine Sekunde ein, dieser Umstand könnte sich ändern, denn meine Eltern hatten sich kurz nach meiner Geburt getrennt.

Dem Umstand, dass sich meine Eltern so früh getrennt haben und dass über meine Mutter zwar genug, aber für mich nicht ausreichend erzählt wurde, verdanke ich, dass ich erfahren habe, dass ich kein Einzelkind bin. Um mehr über meine Familie zu erfahren, musste ich recherchieren und wenn man ein Kind ist, dann beginnt man die Recherche am besten zuhause. Im Bücherregal meines Vaters gab es eine Mappe mit offiziellen Dokumenten der Familie väterlicherseits. Ich war zwölf.

Ihren Namen erfahre ich, bevor ich von ihrer Existenz weiß, denn es dauert Sekunden, um auf das Geburtsdatum zu schauen und noch mehr Sekunden, zu begreifen, was das heißt, dass da mein Geburtsdatum steht. Erst dann blättere ich um und sehe den Totenschein, ihr Tod, knappe zwei Wochen nach unserem Geburtsdatum. Danach kommt ein Beleg für die Zahlung der Grabstelle, die ich viel später aus der Onlinegrabsuche der Bestattung Wien wieder heraussuche und sehr, sehr viel später das erste Mal suche.

Die Monate nach dieser Entdeckung verbringe ich in einem Tagtraum. So ist das, wenn etwas Unmögliches plötzlich möglich geworden war, aber auch gleichzeitig unmöglich und wenn nun alles Unmögliche möglich und das Mögliche unmöglich ist, kann man sich eigentlich alles ausdenken, was nur irgendwie geht. Was, wenn ich adoptiert bin? Was, wenn ich eine ganz andere Mutter habe, was, wenn ich einen ganz anderen Vater habe, was, wenn der Totenschein nur ein Versuch ist, die Existenz meiner Zwillingsschwester an einem anderen Ort zu verleugnen? Was ist in einer Familie an Geheimnissen möglich, in der ich erst nach zwölf Jahren heimlich herausfinde, dass ich nie ein Einzelkind gewesen bin? Auf den Schulwegen stelle ich mir vor, wie ich meine Schwester wiederfinde, wie ich meine Mutter wiederfinde, wie ich plötzlich irgendwo ankomme und von Menschen umgeben bin, die mir ihre Liebe zeigen können. Ich stelle mir vor, dass ich jemanden habe, der eine Allianz mit mir bildet, jemanden, der mir ähnlich sieht, an dem ich erkenne, dass es okay ist, so auszusehen wie ich aussehe und der nicht „die Oberschenkel einer Dreißigjährigen“ hat, wie mein Vater es mir auch ungefähr zu dieser Zeit einmal sagt. Ich kann mir viel vorstellen, aber auch damals schon zerrede ich mir gleichzeitig die Träume, ich sage: niemand weiß, dass du die Geburtsurkunde und den Totenschein gesehen hast, niemand hätte gedacht, dass du sie finden könntest, niemand würde wollen, dass du jetzt nachfragst, denn wenn du nachfragst, gibst du zu, dass du heimlich in einem Schrank gewühlt hast, der dir nicht offen stand und du weißt, was dann passieren würde und wie sehr die tote Schwester zur Nebensache verkäme.

Ich begreife langsam, dass ich eine Schwester bekommen, aber sofort wieder verloren habe. Das doppelte Lottchen habe ich nie gelesen, aber Adaptionen oder ähnliche Geschichten gesehen und gehört; ich werde es nicht nachholen. Ich war ein Kind, als ich im Ferienhof des Aktenschrankes auf ein zweites Kind stoße, das anders heißt, mir aber ähnlich sieht und am selben Tag geboren wurde, ja, es hat denselben Vater und dieselbe Mutter, es ist 13 Minuten jünger als ich, ich bin die ältere Schwester. Meine doppelte Lottchengeschichte geht so: Wir fahren auf den Ferienhof, da stoßen wir an der Tür des Pferdestalls aufeinander, ich schrecke zurück: ist das mein Spiegelbild? Bin ich eine kleine Holzkiste? Wir befragen unsere Elternteile, woraufhin mein Vater die Holzkiste packt und mir reicht und sagt: ja, es stimmt, du bist kein Einzelkind, hier ist deine lang verlorene Zwillingsschwester. Die Holzkiste ist leicht, je weniger Leichnam, desto schneller verliert er sich. Was mir jetzt bleibt, ist mein ganzes Leben lang Verwechseln und Schabernack mit einer Toten zu treiben.

Ich begreife langsam, dass ich eine Schwester bekommen, aber sofort wieder verloren habe. Dann erscheint sie mir als Geist. Es ist Silvester und ich bin alleine zuhause, denn meine Eltern sind auf dem Silvesterpfad, für den ich noch zu klein bin, aber nicht mehr klein genug, dass man mich nicht alleine zuhause ließe. Ich sehe fern und auf dem Raumteiler im Wohnzimmer spiegelt sich der Schein des Licht der Esstischlampe, der von Anhängern auf dem Weihnachtsbaum reflektiert wird, so denke ich. Die Fenster sind geschlossen, ich sitze still auf der Couch, ein Lichtpunkt pendelt auf dem Raumteiler hin- und her. Ich stelle den Fernseher aus, bleibe still sitzen: es ist das reflektierte Licht der Esstischlampe, vermutlich baumelt ein glänzender Weihnachtsbaumanhänger bewegt von den Luftzügen, die ich auf der Couch sitzend verursacht habe. Seit ich lebe, habe ich Angst vor Geistern, ich habe länger Angst vor Geistern, als ich weiß, dass ich kein Einzelkind bin und niemand hat sich je bemüht, mir diese Angst zu nehmen. Ich sehe Geister, wenn keine da sind und wenn sich welche in einem pendelnden Lichtpunkt am Raumteiler manifestieren wollen, so sehe ich sie auch dort, aber ich rede mit mir selbst, denn ich bin ein Einzelkind und ich sage: es ist die Esstischlampe, reflektiert von einem Weihnachtsbaumanhänger, der baumelt, weil die Luft im Raum sich noch immer bewegt, obwohl ich doch so still sitze. Ich sitze stiller, ich halte die Luft an, der pendelnde Lichtpunkt schwingt wild aus. Ich weiß, dass ich aufspringe, dass ich alle Lichter aufdrehe, dass ich aus dem Raum laufe und sofort zu weinen beginne, ich weiß auch, dass einer der ersten erklärenden Gedanken ist: das ist meine Schwester. Ich laufe auf den Balkon, es ist kurz vor Mitternacht, Nora, die in meine Schule geht und unter uns wohnt, ist mit ihren Brüdern auf ihrem Balkon, sie schießen Böller. Ich weine und ich zittere und ich erinnere mich, dass ich eine fast volle Zigarettenpackung, die ich heimlich in meinem Zimmer aufbewahrt habe, vom Balkon schmeiße, denn das ist das Mindeste, was ich tun kann, um mich von Schuld, vom Falschsein, zu befreien, um die Geister zu besänftigen, um meine Schwester zu besänftigen.

Nicht allzulang später, als ich vierzehn bin, nehmen mich meine Eltern mit in den Urlaub. Manchmal wird gestritten, nicht so oft wie zuhause, aber auch hier bin ich im Mittelpunkt. Ich habe Dinge falsch gemacht, ich muss mich entschuldigen, ich zucke zusammen bei Bewegungen der Arme meines Vaters. Man kann es kaum Streit nennen, denn ich streite nicht, ich wehre mich nicht, ich rechtfertige mich kaum, ich bin still, während auf mich eingeschrien wird. Versöhnungen danach sind in der Erinnerung sirupsüß, ich bekomme eine weitere Chance mich als gutes Kind zu bewähren, mein Vater entschuldigt sich manchmal, auch dieses Mal, im Urlaub. Alles wäre nun geklärt, sagt er dann, aber wenn wir schon dabei sind, reinen Tisch zu machen, dann machen wir es gleich ganz. Ich halte die Luft an, ahne und tatsächlich sagt er mir, dass ich eine Zwillingsschwester gehabt hätte. Ich ermahne mich innerlich so laut, überrascht zu tun und weiß nicht, ob es mir damals gelungen ist. Aber ich habe die Möglichkeit Fragen zu stellen: was ist passiert, warum. Eine Stoffwechselerkrankung, sagt mein Vater und das ist eines der Worte, die ich mir erst nach und nach erarbeiten muss, genauso wie den Grund, warum meine Mutter fehlt, auch das ein Wort, das zu kompliziert für ein Kind ist, auch das ein Wort, das man nachschlagen muss und dann nicht einmal ansatzweise versteht.

Aber ich verstehe, was mein Vater danach sagt, denn es ist nicht neu für mich, mein Vater sagt, er hätte sich damals gesagt, dass er eben dem anderen Kind eine Chance geben möchte. Das andere Kind bin ich. Ich, die Chance. Was er mir zu einem späteren Zeitpunkt bei einer Nachfrage zu meiner Mutter sagt, ist, dass meine Schwester wohl ohnehin alles Negative abbekommen hätte, dass ich mir keine Sorgen machen müsste. Ich, die Chance, meine Schwester, das Schmutzfangtuch in der geteilten Gebärmutter.

Viel später schreibt meine Mutter in Briefen, dass meiner Schwester die Speiseröhre gefehlt hat und ich weiß bis heute nicht, was tatsächlich in den zwei Wochen im Juni passiert ist. Ich stelle mir nicht mehr vor, dass ich meine Schwester wiederfinde, ich stelle mir nicht mehr vor, dass sie mich als Geist besucht, aber ich stelle mir vor, dass ich herausfinden könnte, was damals passiert ist, aber ob auch das eine unmögliche Vorstellung ist, die mir nur als Trost möglich vorkommt, wird sich erst in der Zukunft zeigen.

Zwei Wochen im Juni sind lang, ich versuche sie jedes Jahr wahrzunehmen. Ich vergesse es oft, aber zwei Wochen im Juni sind die längsten Wochen im Jahr und so fällt es mir jedes Jahr rechtzeitig ein. Zwei Wochen sind lang, ein ganzes Leben lang. Zwanzig Jahre sind länger als Wochen, zwanzig Jahre wissen um eine Schwester, die man nicht hat, aber haben hätte können, lassen Platz für alle möglichen und unmöglichen Gedanken. Zwanzig Jahre ist genug Zeit, um sich bewusst zu werden, was für ein Glück es ist, nach zweiunddreißig Jahren noch immer am Leben zu sein, wenn jemand, der mit den ganz gleichen Bedingungen in dieser Welt angelegt wurde, nur zwei lange Wochen im Juni alt werden durfte. Manchmal google ich und komme immer wieder auf Esoterikseiten, die davon erzählen, dass wir alle Zwillinge haben. Einmal verfasse ich dazu ein Tumblrposting, ich tagge es und alle paar Monate kommt ein einzelnes Aufmerksamkeitszeichen von Fremden hinzu, wie ein sehr entferntes, kaum wahrnehmbares Winken. Zwanzig Jahre sind lang, so lang, dass ich zwischendurch beginne, Mircea Cărtărescus Orbitor-Trilogie zu lesen und sehe, er teilt mit uns denselben Geburtstag und nicht nur das, er hatte einen Zwillingsbruder, der verschwand, als beide fünf Jahre alt waren. Zwanzig Jahre sind lang, um an allen Ecken und Enden zu suchen, ob es noch weitere verschwundene Zwillinge gibt und je mehr man sucht, desto mehr Zwillinge findet man: Zwillinge, die Zwillinge waren, nur kaum Zwillinge, die keine Zwillinge waren. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, um nach allen möglichen und unmöglichen Erklärungen zu suchen: ich habe Medikamente gegoogelt, ich habe Briefe oft gelesen, ich habe im Internet gefundene Dokumente zur Säuglingssterblichkeit in Deutschland nach Tschernobyl durchsucht. Ich weiß wenig darüber, was Embryos und Säuglinge wahrnehmen und will es auch nicht so genau wissen, denn ich kann mich nicht mehr erinnern und wenn ich es könnte, hätte ich, als die richtige Zeit war, Fragen zu stellen, noch gar nicht reden können.

Zwanzig Jahre dauert es auch, bis mir plötzlich auffällt, dass meine Nichtzwilling-Zwillingsgeschichte auch die Geschichte meiner Nichtmutter-Muttergeschichte ist. Natürlich habe ich eine Mutter, ich bin aus ihr geschlüpft. Natürlich habe ich eine Zwillingsschwester, denn ich bin nicht allein auf diese Welt gekommen. Fragt mich nach meiner Mutter, fragt mich, ob ich Geschwister habe und ich sage erstmal: die einfache Antwort oder die komplizierte? Ist es einfacher zu sagen, man hätte keines von beiden, ist es einfacher zu antworten, man hätte zwei Geschwister, ist es einfacher zu sagen, ich habe lange geglaubt, auch ich darf in den Geschichten dieser Welt stecken, in denen man eine Mutter wiederfindet und am Ferienhof versehentlich jemanden trifft, der in derselben Gebärmutter herangewachsen ist? Ist es einfach zu schreiben, die Mutter ist mir abhanden gekommen, obwohl ich eine haben hätte können, weil mir die Zwillingsschwester abhanden gekommen ist, obwohl ich eine haben hätte können; ist es nicht einfacher zu sagen, ich erzähle das jetzt lieber nicht, weil es erfunden klingt, ist es nicht einfacher zu sagen, meine Mutter war Lehrerin, ich bin mit einem Stiefbruder aufgewachsen. Ist es einfach zu sagen, mir wurde schon sehr früh bewusst, dass ich dieser Welt nicht trauen kann, dass ich lieber bedrucktem Papier glaube, dass mir alles richtiger vorkommt, wenn es einmal irgendwo gedruckt wurde, ist es deswegen so, dass ich mich lieber mit Büchern umgebe als mit Menschen; ist es nicht einfacher zu sagen, hier, es gibt einen englischsprachigen Wikipediaeintrag zu diesem Phänomen, darin stehen eine Liste berühmter Menschen und weiß der Teufel, wieviele wir eigentlich wirklich sind: https://en.wikipedia.org/wiki/Twinless_twin

Wenn man einen Namen trägt, sucht man sich in der Bedeutung dieses Namens. Mein Name bedeutet „Fürstin“, das habe ich schon früh nachgelesen und dachte, dass es nicht verwunderlich ist, wenn ich allein bin. Den einen Namen, den ich dazubekommen habe und seither in den Händen halte, und fast genauso gerufen zusammenzucke, wenn ich ihn sehe oder höre, diesen Namen versuche ich erst spät zu verstehen und dann finde ich heraus, dieser Name meiner Schwester, er bedeutet „Stern“, er bedeutet „Versteck“.

Wie man einen prähistorischen Vogel fängt

Vögel, die noch leben, findet man manchmal im Internet, aber selten findet man sie wieder, wenn sie nicht eine Wohngemeinschaft mit einem Menschen gebildet haben oder von jemandem mit einem Sender ausgestattet worden sind, dem man an die wunderlichsten Orte dieser Welt nachreisen kann.

Vögel, die gestorben sind, findet man auch nicht oft. Sie fliegen an geheime Plätze zum Sterben und die sind selten in unseren Händen. Manche Vögel werden, wenn sie tot sind, zu Tauschkarten, die in nach billigem Plastik riechenden Sammleralben durch Städte und Bahnhöfe getragen werden, manchmal hergezeigt, selten gegen ein lebendes Tier getauscht, wie es Jakob Niemeyer tat, als er den Berliner Archäopteryx gegen eine Kuh auswechselte, von der im weiteren Verlauf der Geschichte leider nichts bekannt wurde außer ihrem Geldwert.

Diese geheimen, toten Vögel werden oft nur durch Zufälle entdeckt, so gut verstecken sie sich. In Madagaskar mussten erst alle Pflanzen abbrennen, bis man darunter das Skelett eines großen Dinosauriers fand. Unter dem Skelett dieses großen Dinosauriers fand man das Skelett eines kleinen, nur, es war kein Dinosaurier, sondern ein kleiner, wirklich sehr schüchterner, prähistorischer Vogel, der sich um des Geheimnisses willen noch selbst im Sterben unter den großen sterbenden Dinosaurier drückte bis schließlich ihm alle Federn glattgestrichen und alles Leben ausgewalkt war.

So fanden ihn Menschen und nannten ihn Bedrohung aus den Wolken (Rahonavis), obgleich, wenn man zwischen dem Erdboden und einem riesigen Dinosaurierskelett eingeklemmt liegt, das eine recht zynische Bezeichnung zu sein scheint.

Vögel sind so viel klüger als Menschen, sie stecken sich nicht grundlos in Mauerritzen und unter große, sterbende Tiere. Sie wollen sich der Diskussion entziehen, die entsteht, wenn sie gefunden werden: ob nun ihre Flügel zu ihnen gehören oder doch zu dem flügellosen Vorona, der ein Stück weiter weg gefunden wurde; ob ihre Flügel denn nicht zu weit entwickelt waren für den Rest des Körpers und ob, wenn diese Frage geklärt war, ob sie nicht, wenn sie denn durch die Vergangenheit flogen, das dann nicht wie ein betrunkener Pelikan, wie eine Fledermaus oder wie das erst einen Tag in Betrieb genommene ferngesteuerte Motorsegelflugzeugsmodell der Nichte des Paläontologen taten.

Und wie es in Diskussionen so passiert, so schweigt viele Male jemand mit schamhaft verquollenem Mund, nachdem er ein Stück Holz zum Dinosaurier erklärt und ein Jahrzehnt lang mit dem Aachenosaurus in einem alten, ledernen Reisekoffer durch Mitteleuropa gezogen ist oder er schweigt, nachdem er sein Unterkiefer weit vorgeschoben hatte um anzudeuten, dass dieses Teil des Succinodon putzeri zwar um einiges größer aber auch genau hier unterhalb einer Öffnung eines Lebewesens lag, aus der heraus ein Stück fossiles Holz mit Muschelabdrücken hinaus zu einem Titanosaurus erklärt wird.

Warum der Rahonavis, dieser selten schüchterne Vogel aus einer Vergangenheit in Madagaskar, tatsächlich kein mit Worten zusammengedrechseltes Wesen, sondern seine eigene Art war? Der Forscher, der sich sicher ist, gibt zur Antwort: Weil man ihn doch auf einer Fläche gefunden hat, die „kleiner ist als ein Blatt Papier“.

Ich fand den Rahonavis, als ich den Pfau, der wörtlich als Lochspatz übersetzt werden kann, mit chinesischen Zeichen in das Eingabefeld der Suchmaschine eintippen wollte, ich erwischte nicht kong (Loch), sondern kong (Leere/Himmel) und mir wurde ein kongniao, ein leerer Vogel, vorgeschlagen. So habe ich mir diesen prähistorischen Vogel gefangen und alles, was sich auf diesem kleinen Blatt Papier, 11,5 pt, Times New Roman, finden lässt, gehört zu ihm. Auf Chinesisch heißt er Flankenleervogel und so heißt er, weil auf einem beschriebenen Blatt Papier die Seitenränder unbeschrieben sind, Korrekturränder für alle zukünftigen Forscher.

 

Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Archaeopteryx

https://de.wikipedia.org/wiki/Rahonavis

https://de.wikipedia.org/wiki/Aachenosaurus

https://en.wikipedia.org/wiki/Succinodon